Donnerstag, 22. September 2016

Svetlana

Hallo Leute,

einleitend mache ich jetzt erstmal schwer auf Hollywood!

Disclaimer:
Alle in dieser Geschichte vorkommenden Personen und Orte sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit real existierenden Orten oder Personen(tot wie lebendig) sind natürlich rein zufällig.*


Folgende Geschichte basiert in Teilen auf wahren Begebenheiten...


Svetlana
...oder auch "Ignoranz muß ein Segen sein"

Das Problem mit Klischees und Vorurteilen ist ja nun Folgendes: egal, wie sehr man versucht sie zu vermeiden, irgendwie tappt man doch immer wieder in die Falle. Und warum ist das so? Weil in jedem Klischee und in jedem Vorurteil meist DOCH ein Stückchen Wahrheit steckt und sei es noch so mikroskopisch klein. Selbst der offenste und toleranteste Mensch den sie kennen fällt irgendwann diesen kleinen, fiesen Arschlöchern zum Opfer. Keiner kann sich davon freisprechen, auch ich selbst nicht. Eigentlich halte ich mich für einen vorurteilsfreien Menschen- Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und Glaube sind für mich gar kein Kriterium, nun gut- bei der politischen Überzeugung sieht´s da schon ein wenig anders aus, aber sei es drum. Ich bin jedenfalls der festen Überzeugung: Arschlöcher gibt es überall, und ein Jeder wird von mir völlig gleichberechtigt gleichermaßen verabscheut.
Aber insbesondere eine ganz bestimmte Person bestätigt mir immer wieder auf´s Neue, das Ignoranz ein Segen sein muß. Ich nenne diese Person an dieser Stelle einfach mal Svetlana.

Svetlana ist eine Arbeitskollegin von mir, eine stolze Frau kasachischer Abstammung, die schon stark an den Fünfzigern kratzt und deren breite Schultern vermeintlich schon so machen Baumstamm getragen haben. Auch wenn sie bei uns im Betrieb keine leitende Stellung innehat stehen alle Kollegen direkt Gewehr bei Fuß, sobald sie die Firma betritt. Sie strahlt eine unbestreitbare Autorität aus, wobei niemand so ganz genau weiß worauf diese eigentlich basiert. Ihre Stimme ist hoch, nasal, laut, durchdringend und nicht immer leicht zu verstehen, der russische Dialekt ist unüberhörbar. Wenn sie richtig in Rage gerät wird Kommunikation zum Glücksspiel, und die Entzifferung ihrer Notizen erfordert viel Phantasie seitens des Lesers.
Svetlana kam anfang der Neunziger nach Deutschland, nach der Wende, als mehrere hunderttausend Russland-Deutsche zurück in die BRD kamen. Interessant das gerade heutzutage niemand mehr ein Wort über DIESE Flüchtlingswelle verliert, aber keine Sorge- das Thema wird auch noch aufgegriffen werden. Aber ich schweife ab...

Ich glaube, Jeder hat in seiner Familie, bei seinem Job oder in der Schule diesen EINEN Menschen der ihn regelmäßig auf die Palme bringt, sei es aus Blödheit,Faulheit, Unfähigkeit oder wasauchimmer. Bei mir ist es Svetlana... und der Grund ist ihre grenzenlose Ignoranz.Zum Beispiel letzten Winter: Mitte Dezember, sechtzehn Grad, Regen. "Das ist kein Winter", höre ich Svetlanas penetrante Stimme von links, "Das ist Witz! Als Kind wir hatten in Kasachstan monatelang -20° und kälter!". Ich schaute aus dem Fenster und antwortete völlig unbedacht:
"Tja, in ein paar Jahren können wir hier Orangen anbauen, der globalen Erwärmung sei Dank!"
Ohne es zu wissen schien ich einen wunden Punkt bei ihr getroffen zu haben, denn plötzlich wurde ihre Stimme zwei Oktaven höher und etwa zehn Dezibel lauter:
"Globale Erwärmung? Ist doch alles gelogen!"
Ein kluger Mensch hätte es dabei belassen. Prinzipiell weiß ich wann ich besser meine Fresse halten sollte, doch plötzlich hörte ich mich "Warum?" sagen. Svetlana atmete tief ein und seufzt, als müsse sie mir nun erklären wie die Welt funktioniert:"Ist alles gelogen! Globale Erwärmung ist Erfindung von Glühbirnenindustrie damit die mehr Energiesparbirnen verkaufen können!".
"Warum?"-verdammt!Ich kann es einfach nicht lassen!
"Habe ich gestern Dokumentation gesehen, die Klimalüge, war auf RTL 2!"
"Du verarschst mich doch Svetlana,oder?"
Der nun folgende Redeschwall erinnerte mich unwillkürlich an die Schußfrequenz einer Kalashnikow, und zum ersten Mal durfte ich Svetlana´s typische Reaktion auf solche Gespräche erleben: in einem Tornado aus deutschen und russischen Worten machte sie auf der Stelle kehrt, stürmte Richtung Treppenhaus und warf die Tür hinter sich zu-BÄM! Diskussion beendet, kostruktiver Diskurs? Am Arsch!

Wäre ich Bergsteiger, wäre Svetlana mein Mount Everest, mein ganz persönliches Watergate.

Anderes Beispiel: Svetlana ist stolz auf ihre Herkunft, und manchmal,wenn sie sich unbeobachtet fühlt, glitzert eine kleine Träne in ihrem Augenwinkel wenn sie an die glorreiche Zeit der UdSSR denkt. In Svetlana´s Weltbild ist Vladimir Putin ein harter,aber gerechter Herrscher, welcher permanent durch die gleichgeschalteten westlichen Medien verunglimpft wird. Einmal wurde ich Zeuge einer Unterhaltung zwischen Svetlana und Thomas, einem Kollegen der statt Rückgrat Pudding in der Wirbelsäule und einen Stock im Arsch hat. Der größte Teil des Gespräches wurde dank meines vorgeschalteten Bullshit-Filters nicht in meinem Gedächtnis gespeichert, doch ein Satz erregte dann doch meine Aufmerksamkeit:
"Bla bla bla, und dann muss die rote Armee wieder für EURE Freiheit kämpfen, so wie in zweite Weltkrieg!".
Die ganze Geschichte mit Pussy Riot war noch nicht allzu lange her, und verdammte Hacke, schon wieder hörte ich mich reden:
"Äehm Svetlana...bevor die rote Armee für unsere Freiheit kämpft...solltet ihr nicht erst einmal zusehen das bei euch Freiheit herrscht, Hashtag Pussy Riot und so?"
Der Blick den sie mir darauf hin zuwarf ist nur schwer zu beschreiben.Er sah in etwa so aus wie sich ein Zahnarztbohrer anhört und fühlte sich wie kleine Bambussplitter an, welche langsam unter meine Fingernägel geschoben werden. Ihre Gesichtsfarbe ähnelte plötzlich ganz frappierend der Sovjet-Fahne während sie auf dem Weg zum Treppenhaus ihre Wortkanonade auf mich niederprasseln ließ. Einzelne Wortfetzen, zum Beispiel "Verletzen religiöser Gefühle","Arbeitslager ist noch zu gut" und "Alle abknallen" erreichten mein Ohr, bevor Svetlana wieder einmal die Tür zuwarf- BÄM!

Wenn ich Tepco wäre, wäre sie mein Fukushima, mein ganz persönliches Pearl Harbor.

Danach hat Svetlana eine ganze Zeit gar nicht mehr mit mir gesprochen und auf der Arbeit gingen wir uns, so gut es eben geht, aus dem Weg. Meine Kollegen jedoch kamen weiterhin in den zweifelhaften Genuß von Svetlana´s Weltsicht, und leider hat die Evolution beim Menschen zwar die Augen schließbar gemacht, die Ohren aber eben nicht. So konnte ich nicht vermeiden Svetlana´s Ansichten zur aktuellen Situation in der Türkei und der Flüchtlingswelle mitzuhören.
"Der Putsch in Türkei das waren Amerikaner, Erdogan konnte nur niederschlagen durch Information von KGB!"- okay, auch wenn ich da andere Anschichten vertrat, es schien durchaus eine Möglichkeit zu sein. Aber dann:"Türkei will Todesstrafe wieder einführen, und wenn mit Flüchtlinge so weitergeht muss Todesstrafe auch in Deutschland kommen, so viele Terroristen und Kinderschänder wie kommen!"
"Äehm Svetlana..."- scheisse, ich lerne es anscheinend wirklich nicht!
"Was könnte man denn ,deiner Meinung nach, gegen die Flüchtlinge unternehmen?"
"Syrische Rebellen sollen sich ergeben und kriegen von Assad freie Geleit. Ansonsten ist einfach- Grenze dichtmachen!"
"Was wäre denn gewesen wenn Deutschland anfang der Neunziger die Grenzen für die Russland-Deutschen dicht gemacht hätte?"
Zu meinem Erstaunen blieb Svetlana relativ ruhig und rauschte nicht beleidigt ab- sollte das etwa ene Falle sein?
"War andere Situation, kannst du nicht vergleichen!", sagte Svetlana.
"Und für wen würdest du die Todesstrafe einführen wollen?", fragte ich arglos.
"Terroristen, Kinderschänder, Mörder, Staatsfeinde", antwortete sie, nun deutlich gereizter.
"Also irgendwie macht mir der Gedanke Angst, Svetlana", hob ich an, sie gab mir wieder den Bambussplitterblick.
"Haben wir das Recht, wertes von unwertem Leben zu trennen? Steht uns diese Entscheidung zu? Und was kommt als Nächstes?Heute Kinderschänder und Terroristen, morgen dann Schwule und Lesben, und dann kommen die Behinderten dran?"
Ach- ist es nicht schön wenn man sich auf bestimmte Dinge immer wieder verlassen kann? Das gibt einem so ein wohliges Gefühl von Kontinuität! Während Svetlana wie ein Berserker Richtung Treppenhaus polterte, hörte ich noch wie sie mir "Kein Wunder, haben die Ami´s euch 70 Jahre lang Gehirn gewaschen" entgegenschleuderte. BÄM!

Wäre ich die Titanic, Svetlana wäre mein Eisberg, meine ganz persönliche Columbine High School.

Manchmal...ja manchmal beneide ich Svetlana ein wenig und wünsche mir ich wäre ein bisschen mehr wie sie. So fest und standhaft in meinen Überzeugungen zu sein das Nichts, aber auch gar Nichts meine Ignoranzpanzerung durchschlägt, ich mach mir die Welt widdewidde wie sie mir gefällt.
Ich glaube, mein Alltag wäre dann um einiges leichter, einfach auf jegliche Empathie und Toleranz scheißen und konsequent meinen eigenen kleinen Film fahren-ja, das hätte doch was...
Aber mich so weit runterzudummen bekomme ich (noch) nicht so richtig hin, aber das kann ja noch kommen.

Einige meiner liebsten Arbeitskollegen sind russischer oder polnischer Abstammung, ich habe Russen in meinem sozialen Umfeld, kenne sie von Elternabenden und Kindergartenveranstaltungen, habe mit ihnen gelernt, gelacht, gegessen, gesoffen und gefeiert, und sie alle sind freundliche, hilfsbereite und angenehme Menschen. Aber wie das eben so ist im Leben: manchmal trifft man einfach auf Menschen, Menschen wie Svetlana, die einen spüren lassen das in Klischees und Vorurteilen manchmal doch ein kleines Fünkchen Wahrheit steckt.Und es stimmt doch: Arschlöcher gibt es wirklich überall!



*oder vielleicht auch nicht

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