Die
Selbsthilfegruppe
Probleme, Probleme, nix als Probleme, schon immer- seit Anbeginn der Menschheit! Früher trafen sich die Stammesältesten rund um das große, zentrale Lagerfeuer, warfen sich Psylocibin-Pilze ein und sprachen und berieten sich: über ihre Erfolge, Probleme, Ängste und Nöte. Alles wurde angesprochen, man war unter Gleichen, und "political correctness" war noch nicht erfunden worden. Das geht heute natürlich nicht mehr...schon beim Anzünden des Feuers in der Mitte des örtlichen Marktplatzes unter Zuhilfenahme von fünf Litern Benzin würde eine freundliche, aber entschlossene Hundertschaft Staatsbediensteter in Grün jeglichen konstruktiven Diskurs verhindern. Selbst wenn man auf das Feuer verzichten würde- müsste man sich gegenüber obengenannten Schupos noch rechtfertigen, ob diese "Versammlung" überhaupt angemeldet sei.
Davon mal ganz ab...Stämme gibt es heutzutage bei uns ja nicht mehr. Schöne neue Welt, heute regeln wir das ganz anders. Heute...schreiben wir unseren Vornamen(natürlich NICHT unseren richtigen Vornamen) auf ein kleines Schildchen und gehen zu einer Selbsthilfegruppe! Auch mein Mitteilungsbedürfnis und mein Streben nach mitfühlendem Verständnis wog irgendwann schwerer als meine Scham und mein Testosteronspiegel und trieb mich an einem verregneten Mittwochabend in einen leicht angespackten Seminarraum des christlichen Vereines junger Menschen.
Diese normalerweise auf Saufen, Gröhlen und Scheißesein spezialisierte Organisation machte seit neuestem auch in Selbsthilfegruppen. Zögerlich trat ich ein...bevor ich entschlossen meinen unauffälligen Alias "Balthasar-Peter" unleserlich auf ein Kärtchen kritzelte und den Getränkeautomaten in der Ecke um ein Getränk für echte Kerle erleichterte: entcoffeinierter Latte Macciato mit Mandel-Flavour und Karamell-Topping war jetzt genau das Richtige!
Das Äquivalent des "Stammesrates" tat sich vor mir auf, ich hatte eigentlich mit abgerockten Randexistenzen gerechnet, doch weit gefehlt! Dort saßen Menschen wie du und ich! Mir gegenüber saß das sanft säuselnde, Birkenstock-Lennonbrillebehaftete Pädagogenklischee, begrüßte die Gruppe mit Worten so zart wie ein Schmetterling, und forderte Balthasar-Peter auf, doch heute zu beginnen...keine Reaktion. Erst zwei Aufforderungen und drei Ellenbogenstöße später begriff ich endlich und stand unsicher auf...
"H-Hallo. Ich bin..."- ich schaute an mir herunter, zu meinem Namenskärtchen,"...Balthasar Peter...UND ICH BIN ÜBER 40!". Betroffene Blicke aus der Runde treffen mein gesenktes Haupt."Ich bin älter als das Internet...das muß man sich mal vorstellen!! Schon seit ein paar Jahren bemerke ich unwillkürliche Veränderungen an mir, geht euch das auch so?". Hier und dort sehe ich zustimmendes Nicken. "Es fängt mit den kleinen Dingen an: man masturbiert eher alle 5 Tage statt 5x täglich und manchmal fängt man schon an mit sich selbst zu diskutieren..."oooch, eigentlich wär´s mal wieder Zeit..."" oooch neee, irgendwie bin ich nicht im Stimmung!"...Und wenn ich mich dann doch selbst mal rumkriege, kann ich froh sein wenn meine Erektion eine höhere Festigkeit erreicht als eine halbgar gekochte Makkaroni". Ich kann ein leise gesäuseltes "Ja das kenne ich!"vernehmen.
"Aber nicht alles wird weniger- im Gegenzug muß ich dafür nachts öfter raus. Alleine die TATSACHE das ich weiß was Granufink ist, ist doch schon zum kotzen! Kaum sind die Kinder aus dem Gröbsten raus und lassen dich nicht mehr um Fünf Uhr Dreissig aus dem Bett fahren ...und plötzlich fängt DIESE Scheiße an! Ausgeschlafen sein? AM ARSCH!". Ich hole tief Luft.
"Also bin ich jetzt über 40...Statistisch gesehen bin ich jetzt in der zweiten Halbzeit. Die gesellschaftlichen Konventionen ERWARTEN von mir auf Ü-40 Partys zu gehen, was macht das mit einem Menschen wenn irgendwelche Rotzlöffel ,die vermutlich noch nicht einmal Haare am Sack haben, dich an der Bushaltestelle abschätzig mustern und sich zuraunen:"Der will bestimmt zur Gammelfleischparty in der Stadthalle!". Vereinzelt werden erste kleine Schluchzer aus der letzten Sitzreihe hörbar. Doch ich mache unbeirrt weiter.
"Gott sei Dank muss ich mir diese gemeinen Kommentare nicht mehr anhören, die Ohren sind ja auch nicht mehr die Besten. Doch die Probleme fangen ja schon VOR der Party an- vor meinem Kleiderschrank! Die gute alte Phrase "Ich hab nix anzuziehen" schleicht sich immer mehr in meine langsam verwesende Existenz, nicht weil ich mit fortgeschrittenem Alter spontan ein Modebewußtsein entwickelt hätte...", schuldbewußt schaue ich an meinem billigen, vermutlich von chinesischen Kinderhänden hergestellten Adidas-Jogginganzugimitat herunter,"Sondern wil sich jede Kalorie an meine Hüfte klammert als wäre sie 12 Jahre alt und meine Hüfte Justin Bieber!"
Ein Mix verschiedener Emotionen wallt mir entgegen: Verständnis, Zustimmung, Verzweiflung, Unglaube(gerade von den jüngeren Besuchern). Ich fahre fort:
"Mir wird schmerzlich bewußt das die besten Jahre hinter mir liegen. Koks und Nutten stehen bei mir nicht mehr auf dem Programm, heute bin ich schon froh wenn ich es schaffe, Samstags bis zum aktuellen Sportstudio wach zu bleiben! Das Hier und Jetzt besteht aus Pflichten, Routine, Rechnungen, steifen Gelenken und grauem Haaransatz. Glanz und Glorie, wilde Partys und zügelloses Herumficken liegen nun weit in meiner Vergangenheit, an welche ich mich gerne und lebhaft erinnere- sofern mein Gedachtnis da noch mitspielt. Gespräche mit Freunden und Bekannten drehen sich meist um Erinnerungen: Ey, weisste noch damals, als wir....Wir schwelgen in der Vergangenheit und verklären sie, das ich heulen möchte.". Ganz plötzlich ist es um mich herum sehr still geworden, nachdenklich.
"Ich will das nicht! Ich will mir nicht sagen: ok, das wars, jetzt sitze ich noch die Restzeit ab bis ich in die Kiste springen kann! Ich habe noch jede Menge Zeit, also wenn´s gut läuft, und die will ich mit mehr füllen als mit Pflichterfüllung und Tristesse , die Spießerhölle kann mich am Arsch lecken!". Noch einmal muss ich mich kurz sammeln, meine Gedanken ordnen.
"Es wird höchste Zeit für neue Erinnerungen! Ist schon klar- es wird nicht alles toll sein, aber das muss es ja auch nicht! Nehmt euer Leben in die Hand und macht es wieder lebenswert- hebt den Wert eures Lebens! Geht endlich wieder lustvoll durch das Leben. Verlasst eure Comfort-Zone und bleibt neugierig! Macht neue Erfahrungen, lasst euch das erste Tattoo stechen oder raucht euren ersten Joint. Oder macht es wie ich, sucht euch eine neue Herausforderung und fangt mit Poetry-Slam an!Geht auf Reisen abseits der ausgetretenen Touristen- all inclusive- Pfade! Besucht Konzerte der Künstler die ihr schon immer mal sehen wolltet- schließlich werdet nicht nur ihr älter, sondern DIE auch!“ Ich schaue bedeutsam in die Runde und mache eine fast ZU dramatische Pause.
"Es ist zu schaffen! Und drauf geschissen wenn euer Umfeld brüllt: Jaaa alles klar, der hat eine Midlife-Crisis! Lasst DIE erstmal in euer Alter kommen! Ich will den Unterschied zwischen "am Leben sein" und "lebendig sein" nicht nur erkennen, sondern auch spüren. Und wenn mir DAS geling, dann gelingt das euch 40-jährigen da draußen auch. Das alles hat nichts materialistisches an sich und hat nix mit Konsumscheiß zu tun! Es ist zu schaffen...und wenn wir es schaffen, dann können wir alle ein wenig von Klaus Wovereit klauen und sagen: Ja , wir sind über 40- und das ist gut so!"
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